30.04.2019
Die Rheinpfalz

Vorfahrt für Individualverkehr

Seit 1994, dem Jahr der Bahnreform, wurden in Deutschland 146 Mal mehr Kilometer neue Straßen als Schienen gebaut. Deshalb sind die Engpässe und der Nachholbedarf im Zugverkehr so riesig wie nie zuvor. Dabei wurde die Trendwende schon oft versprochen.
Von Thomas Wüpper, Berlin

Jeden Tag ärgern sich Bahnfahrer über Verspätungen oder Zugausfälle, Güter sind auf dem überlasteten Schienennetz häufig Tage unterwegs. Seit Jahrzehnten versprechen Regierungen und Politiker, dass alles besser werden und mehr Verkehr aufs umweltschonende Gleis verlagert werden solle. In der Praxis aber wird dafür viel zu wenig getan.Das zeigt eine Studie des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE), die gestern vorgestellt wurde. Demnach wurde das Straßennetz seit der Bahnreform 1994 um rund 250.000 km verlängert, das Schienennetz aber nur um exakt 1709 km. Die Infrastruktur für Autos und Lkw wuchs also 146 Mal mehr als das Gleisnetz. Auch in den vergangenen Jahren dehnte sich das Straßennetz den Berechnungen zufolge weiter um im Schnitt 192 Kilometer pro Woche und rund 10.000 Kilometer pro Jahr aus. Dagegen wurden pro Woche nur 1,3 Kilometer neue Schienenstrecke in Betrieb genommen. „Die Zahlen belegen, welchen Vorsprung die Straße an Netzdichte und Kapazitätsangebot durch die langjährige massive Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand erlangt hat“, sagt NEE-Geschäftsführer Peter Westenberger. Für deutlich mehr klimafreundlichen Schienenverkehr müssten „Bund, Länder und Kommunen die Versäumnisse der Vergangenheit bei den Investitionen angehen und koordiniert umsteuern“.

Das Netzwerk vertritt viele große Güterbahnen, die mit dem Lkw-Verkehr in teils heftiger Konkurrenz stehen. Der Marktanteil der Frachtbahnen ist in den letzten Jahren leicht auf 19 Prozent gewachsen, was vor allem am Erfolg privater Anbieter liegt. Die größte Güterbahn Europas, die bundeseigene DB Cargo, steckt dagegen seit Langem in der Krise und schreibt hohe Verluste.

Die Bundesregierung will den Schienenverkehr stärken. Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, dass sich die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln und auch der Gütertransport mit Zügen kräftig zulegen soll. Ein Modernisierungs- und Ausbauprogramm soll mehr Kapazitäten schaffen und viele der massiven Engpässe beseitigen. Experten halten die bisher dafür bereitgestellte Finanzierung aber für viel zu gering. Allein der Bahn-Nachholbedarf wird auf mehr als 50 Milliarden Euro geschätzt. Das ist die Summe, die in den vergangenen Jahren hätte investiert werden müssen, damit Gleisstrecken, Brücken, Tunnel, Weichen, Stellwerke und Bahnhöfe nicht verschleißen und überaltern. Wegen der steigenden Fahrgastzahlen und Gütermengen ist das Schienennetz nun an vielen Stellen überlastet. Insgesamt habe es seit 1994 nur 58 Inbetriebnahmen neuer Bahn-Strecken gegeben, darunter lediglich fünf größere Verbindungen mit mehr als 100 Kilometer Länge: München–Berlin, Hamburg–Berlin, Hannover–Berlin, Köln–Frankfurt und Teile von Karlsruhe–Basel. 13 gebaute Strecken seien kürzer als ein Kilometer und 15 nur bis zu fünf Kilometer lang sowie meist ohne netzweite Bedeutung. Verglichen wurden nur Vorhaben, bei denen Kapazitäten durch Neu- oder Ausbau erweitert wurden. Das Geld für Neubau floss laut Westenberger vor allem in ICE-Strecken, S-Bahn-Gleise und die Anbindung von Flughäfen. Im Güterverkehr, der seit zwei Jahrzehnten fast ununterbrochen wächst, gab es lange Zeit fast keine Streckeninvestitionen.

Das deutsche Straßennetz misst rund 900.000 Kilometer. Dabei sind alle kommunalen Straßen eingerechnet. Das deutsche Schienennetz ist rund 38.500 Kilometer lang. Täglich fahren darauf im Schnitt 43.000 Züge, die im Jahr rund eine Milliarde Kilometer zurücklegen.

Kommentar: Absurd einseitig

Von Thomas Wüpper, Berlin

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Wer die umweltschonende Bahn vernachlässigt, fährt nicht nur umweltpolitisch in die Sackgasse, sondern auch ökonomisch.

Staus über Staus, Atemluftverschmutzung, Klimabelastung, hoher Ressourcenverbrauch, Dieselskandal, Fahrverbote – unsere automobile Republik hat massive Probleme, die nicht mehr mit einem Achselzucken wegzuschieben sind. Die unausgewogene Verkehrspolitik der Bundesregierungen hat in die Sackgasse geführt. Viel zu sehr wurde in den vergangenen Jahrzehnten der Straßenverkehr bevorzugt und die Bahn als umweltschonende Alternative vernachlässigt. Dass seit der Bahnreform 146 Mal mehr Straßen als Schienenwege gebaut wurden, ist ein klarer Beweis, dass viel zu wenig für eine Verkehrswende getan wurde. Bei dem Thema müssen sich die Politiker über wachsenden Verdruss der Bürger nicht wundern.

Auch Verkehrsminister Andreas Scheuer hat die Wende bisher nicht eingeleitet. Sein Schienenbündnis bleibt erfolglos, so lange die Finanzierung für eine bessere Bahn und vor allem eine leistungsfähigere staatliche Infrastruktur nicht gesichert ist. Dem smarten Bayern liegt vor allem der Straßenverkehr am Herzen – wen wundert’s angesichts von Audi in Ingolstadt und BMW in München. Nächste Woche wird der Minister mit großem Tamtam die ersten Ergebnisse eines Tests zum autonomen Lkw-Verkehr vorstellen, den ausgerechnet die Bahn-Speditionstochter DB Schenker mit dem Hersteller MAN realisiert. So soll noch mehr Fracht in Lkws an Stromleitungen auf ohnehin überlasteten Autobahnen transportiert werden.

Die bundeseigene Frachtbahn DB Cargo fährt derweil immer tiefer in die Krise. Sie leidet auch, weil die deutschen Bahnstrecken erst zu 60 Prozent elektrifiziert sind, weil für mehr stets das Geld fehlte. Nichts zeigt deutlicher, wie absurd einseitig die maßgeblichen Verkehrspolitiker in Deutschland zugunsten des Individualverkehrs agieren – und das leider schon viel zu lange.