08.09.2017
Die Rheinpfalz

Streit um Bahnsteige und Barrierefreiheit

Bundesverkehrsministerium fordert einheitliche Höhe von 76 Zentimetern – In der Pfalz könnte dies zu absurden Effekten führen
Von Eckhard Buddruss

Mainz/Kaiserslautern. Zwischen Bund und Ländern zeichnet sich ein Streit um die Höhe von Bahnsteigen ab, weil das Bundesverkehrsministerium frühere Vereinbarungen in Frage stellt. Leidtragende des Kurswechsels könnten Fahrgäste an Stationen in der Pfalz sein, die bisher nicht modernisiert worden sind.

In Deutschland gibt es ein Sammelsurium unterschiedlicher Bahnsteighöhen, das von 38 Zentimetern (bei ganz alten Bahnsteigen teilweise sogar noch weniger) bis 96 Zentimetern reicht. In der Pfalz gilt seit einigen Jahren bei der Modernisierung von Bahnsteigen die Regel, dass auf den elektrifizierten Strecken die Höhe 76 Zentimeter beträgt, auf den nicht elektrifizierten 55 Zentimeter. 2011 wurden diese Werte in einem Bahnsteighöhenkonzept festgelegt.Zum Ärger der meisten Bundesländer stellt das Bundesverkehrsministerium diese Einigung nun in Frage und fordert generell eine Bahnsteighöhe von einheitlich 76 Zentimetern – allerdings mit einer Ausnahme für S-Bahn-Stationen in innerstädtischen Tunnelstrecken, bei denen oft 96 Zentimeter üblich sind. Begründet wird die Präferenz für die 76-Zentimeter-Höhe unter anderem damit, dass die Bahnhöfe in den 50 größten Städten in Deutschland bereits mit 76-Zentimeter-Bahnsteigen ausgestattet seien. Deutschlandweit hätten diese 76-Zentimeter-Bahnsteige einem Anteil von rund 28 Prozent an der Anzahl der Bahnsteige, dort stiegen aber rund 44 Prozent der Reisenden ein oder aus. Demgegenüber seien dies an den 55-Zentimeter-Bahnsteige, die einen Anteil von 24 Prozent an den Bahnsteigen haben, nur 8 Prozent der Reisenden.

Zieht der Bund diese Linie durch, könnte das in der Praxis bedeuten, dass die Modernisierung von Bahnsteigen nur noch dann finanziell vom Bund gefördert wird, wenn sie eine Höhe von 76 Zentimetern erhalten. Gravierend wäre das vor allem in den Fällen, in denen schon viele oder sogar fast alle Bahnsteige einer Linie einheitlich 55 Zentimeter Höhe haben und es nur noch einige Nachzügler gibt. Ein solcher Fall wäre beispielsweise Hinterweidenthal (Kreis Südwestpfalz) an der Queichtalbahn. Gegen dieses drohende Szenario wenden sich sowohl Michael Heilmann, der Direktor des für den regionalen Schienenverkehr im südlichen Rheinland-Pfalz zuständigen Zweckverbands in Kaiserslautern, als auch Matthias Rösch, der rheinland-pfälzische Landesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen.

Rösch sagte der RHEINPFALZ, die Initiative des Bundesverkehrsministeriums für einheitliche 76-Zentimeter-Bahnsteige komme ein paar Jahre zu spät. Jetzt bringe sie die weiteren Ausbauplanungen durcheinander. „Wenn der Bund jetzt generell 76-Zentimeter-Bahnsteige vorschreiben würde, hätten wir die nächsten Jahrzehnte Chaos.“ Das jetzige System funktioniere recht gut, auch wenn es wünschenswert wäre, in Knoten wie dem Mainzer Hauptbahnhof einen Bahnsteig (hier den an den Gleisen 6 und 8) mit 55 Zentimetern Höhe zu haben. Ein viel gravierenderes Problem seien aber die immer noch viel zu vielen Stationen, die noch Bahnsteige mit 38 Zentimeter Höhe oder noch weniger haben. Viele Beschwerden bekomme er außerdem wegen defekter Aufzüge beispielsweise in Grünstadt oder Frankenthal Süd.

Heilmann, der auch stellvertretender Vorsitzender des Stationsbeirats der Deutschen Bahn (DB) ist, betonte: „Vor 20 Jahren abgestimmte Konzepte, die erst jetzt ihre volle Wirksamkeit entfalten, weil Fahrzeuge gerade abgeliefert werden, werden nun ad absurdum geführt, wenn Bahnsteige mit davon abweichenden Höhen realisiert werden müssen.“ Einig mit Rösch und Heilmann ist sich in dieser Frage Staatssekretär Andy Becht (FDP), der im rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministerium für das Thema Verkehr zuständig ist. Becht sagte in einem Gespräch mit der RHEINPFALZ er halte die Forderung des Bundesverkehrsministeriums für unsinnig. Es drohe die Gefahr, dass die Arbeit vieler Jahre „über den Haufen geworfen“ werde. Das 2011 vereinbarte Konzept sei vor allem im Süden des Bundeslandes zu großen Teilen umgesetzt. Das Thema Barrierefreiheit liegt Becht besonders am Herzen, nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen als Beigeordneter im Landkreis Germersheim. Dabei versteht er das Ziel, Barrieren abzubauen, in einem sehr weiten Sinn. Bahnhöfe müssten von ihrem in manchen Fällen immer noch vorhandenen „Schmuddelimage“ weg. Ziel sei es, Bahnstationen gemeinsam mit den Kommunen zu einem „Entree der Gemeinde“ zu machen. Wie wichtig eine Bahnstation auch heute immer noch sein kann, habe er jüngst bei der Eröffnung des neu errichteten Bahnsteigs im Kaiserslauterer Stadtteil Hohenecken erlebt. Fotos: Hoffmann/Löffel/View

Kommentar: Das Zeug zum Schildbürgerstreich

Von Eckhard Buddruss

Das Bundesverkehrsministerium sorgt durch das Streben nach einem fernen Idealzustand dafür, dass erstmal jahrzehntelanger Ärger droht.

Der Versuch des Bundesverkehrsministeriums, in Deutschland eine einheitliche Bahnsteighöhe von 76 Zentimern durchzusetzen, ist ein typisches Beispiel dafür, wie gute Absichten bei Ausblendung der Realität Schaden anrichten können. Es wäre zwar schön, wenn es überall einheitliche Bahnsteighöhen gäbe. Das Ziel, einheitlich 76 Zentimeter durchzusetzen, scheitert aber schon daran, dass beispielsweise in Frankreich und der Schweiz 55 Zentimeter üblich sind und auch bleiben werden.

Wenn das Bundesverkehrsministerium sich darauf versteift, dass nur noch Bahnsteige mit 76 Zentimeter Höhe finanziell gefördert werden, dann drohen wegen der Orientierung an einem fernen Idealzustand, den es wahrscheinlich selbst bei isolierter Betrachtung von Deutschland nie geben wird, im Alltag jahrzehntelang völlig unnötige Komplikationen. In der aktuellen Situation gibt es in der Pfalz zwar einige Schwachpunkte – etwa die Gleise 4 und 5 in Neustadt, die wegen der S-Bahn 76 Zentimeter hoch sind, während die dort in die Südpfalz abfahrenden Züge 55-Zentimeter-Einstiege haben. In den Knotenbahnhöfen lässt sich dieses Problem aber eher durch den Einsatz mitgeführter Rampen regeln als bei Halten in der Fläche. Grotesk ist an der Position des Bundesverkehrsministeriums, dass es sich auf die 55-Zentimeter-Bahnsteige eingeschossen hat, während das Ministerium hinnimmt, dass beispielsweise sämtliche Linien der Frankfurter und Münchner S-Bahn nicht barrierefrei sind, weil die Bahnsteighöhe teilweise 76 Zentimeter, teilweise aber auch 96 Zentimeter beträgt.