14.12.2017
Die Rheinpfalz

„Ist hier noch frei?“

Die Deutsche Bahn schafft das Abteil ab: Abgesang auf einen rasenden Mikrokosmos – Erinnerungen an ein zugleich überraschend schönes und peinigendes Biotop
Von Markus Clauer

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962 vom Philosophen Jürgen Habermas erstmals beschworen, rast wie auf Schienen. Wie ein ICE, der mittlerweile auch noch zur Fahrtaufnahme beiträgt. In der neuen Version, die jetzt verkehrt, dem ICE 4, sind nun Bahnabteile der prinzipielle Ausnahme- und Spezialfall. Selbst schuld. Wie die Deutsche Bahn herausgefunden hat, stehen die Leute lieber, als sich Knie an Knie gegenüber zu sitzen, wenn Elfriede aus Osnabrück ihrem Egon die Tupperschüssel mit den Leberwurstbroten reicht.Einer der letzten demokratischen Orte von hochmetaphorischer Strahlkraft verschwindet damit. Eine der letzten Nicht-Blasen. Ein Mikrokosmos, in dem jemand, dem Autonummernschilder mit roten Kennzeichen aus der Ledertasche ragen, teilhat an den Büroabläufen eines – immer (!) – schwäbischen Dauertelefonierers aus der IT-Branche, während eine Dame mit Hut „Das goldene Blatt“ liest und Uschi aus Cuxhafen ihre Lippenkonturen nachzieht. Der wortlose Rest starrt aus dem Fenster, wo die Kasseler Berge vorbeifliegen. Und alle sind sie Nachfahren von Frau Jakob aus Groß-Grünau und Herr Grundeis mit dem steifen Hut aus Erich Kästners Buch „Emil und die Detektive“, das 1929 erschienen ist.

Das Bahnabteil ist eines der schönsten, unwahrscheinlichsten und peinigendsten Biotope zugleich, immer gewesen. Dito: eines der literarischsten. Die russischen Romane sind eine Zeitlang ohne diese Verkapselungen der Gesellschaft gar nicht ausgekommen. Im Geiste fühlt man sich im Abteil ständig in kafkaesken Situationen. Man gedenke auch Hans Castorps sich einstimmender Verwandlung auf der Zugfahrt zum Zauberberg in Thomas Manns Roman. Im Abteil sitzend selbstredend, neben sich auf der Bank ein broschiertes Buch namens „Ocean Steamships“, das er nur zu Anfang seiner Reise bisweilen studiert und dann vernachlässigt, indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlenpartikeln verunreinigt. Kaum jemand, der Zug fährt und keine autobiografische Erzählung dazu parat hätte.

Wir fünf zum Beispiel – damals – hatten auf einer 52-stündigen Ohne-Halt-Interrailfahrt, es ging von Mannheim nach Athen, leider nur fünf Sitze reserviert. Und dann stieg ein stoischer Alter auf Heimreise zu und entledigte sich sogleich seiner Schuhe. Barfüßig fuhr er bis Skopje. Unvergessen auch eine Nachtfahrt mit einer süditalienischen Oma. Ihr Handgepäck bestand aus einer Tüte Knoblauch. Oder wie meine kleine Tochter mehrfach – lautstark – im Abteil auf der Tatsachenbeschreibung „dicker Mann, schläft“ beharrte. Bis zum Eintreten des gegenteiligen Bewusstseinszustands. Der Blick des Erwachten bohrte mir das Wort „Kinderschnitzel“ entgegen.

Das Bahnabteil ist eine Schule der Wappnung, des Fremd- und Daheimseins für kurze Zeit. Schon zwischen Göttingen und Hannover bilden sich ad hoc Schicksalsgemeinschaften. Sympathien verteilen sich neu. Aber einer Frage, gestellt kurz nachdem die Schiebetür geöffnet wurde, begegnen alle gemeinsam defensiv. „Ist hier noch frei?“ Je nachdem frischt auch einmal blankes Entsetzen auf.

Fünf Insassen scheinen dann ihre Strategien zu überdenken, wie man einen letzten Freiraum am wirkungsvollsten beibehält. Soll man möglichst feindselig schauen, in der Nase popeln, – geh’ vorbei, geh’ vorbei, geh’ vorbei – Gedankenübertragung probieren? Schwindeln?

Im Abteil wird sich bei Gelegenheit geliebt – heißt es. Aus dem Nichts gehasst. Soziale Konflikte brechen auf wie im Film „A Hard Day’s Night“, 1964, in dem ein „Financial Times“-Leser die renitenten Beatles anblafft und John Lennon mit der Aufforderung „gib uns einen Kuss!“ kontert.

Im Abteil fahren, bedeutet: teilnehmende Beobachtung bei einer nicht repräsentativen Gesellschaftsanalyse. Meinungs- und Sozialforscherin Elisabeth Noelle-Neumann testete ihre berühmte Theorie der Schweigespirale, in dem sie die Abteil- als gedachte Versuchssituation instrumentalisierte, um die Redebereitschaft von Probanden zu kontroversen Themen abzufragen. Das Abteil schreit geradezu nach Küchenpsychoanalyse.

Streitende Paare, schreiende Kinder, Soziopathen, die im überfüllten Zug auf ihrer zur Hutablage gebuchten Reservierung bestehen, transzendentale Obdachlose mit Bahncard 100. Ob die Heizung höher gedreht werden soll oder nicht, gerät zur Charakterfrage. „So ein Eisenbahnabteil ist eben doch eine seltsame Einrichtung“, schrieb Erich Kästner zutreffend. Schnell stellen sich dort existenzielle Fragen.

Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Nicht immer sind die Antworten banal, wenn sich eine Zufallskohorte zur Vis-à-vis-Kommunikation verdammt sieht, weil bei den ständigen „Störungen im Betriebsablauf“-Durchsagen kein Mensch Musils „Mann ohne Eigenschaften“ lesen kann. Ähnlich ist es vielleicht noch beim Arzt im Wartezimmer, nur sind die Leute dort eher in sich gekehrt. Und wenn geredet wird, bleiben die Themen eindimensionaler.

Eine gute Zugfahrt im Abteil gleicht einer Fernsehtalkshow – ohne, dass die zu vertretenden Positionen vorher austariert worden sind, mithin einem Austausch über soziale Grenzen hinweg. Dem großen Los bei einer Begegnungslotterie. Und – warum nicht? – Parship ohne Parameter.

Der Philosoph Philip Hübl glaubt sogar, dass der rasende Raum für sechs Personen auf Schienen das Café als mythischen Ort für Künstler und Intellektuelle abgelöst hat. Es dürfte unwirtlicher werden. Erst im ICE 4, bald in der ganzen DB-Flotte. Und dann irgendwann sitzen alle mit Ohrstöpsel und stierem Blick auf ihre elektronischen Geräte nebeneinander im Großraumwagen(büro). Und niemand mehr sieht Egons versonnenen Blick zu Elfriede. Niemand die Lebensspuren auf der Tupperware. Nur Leberwurstgeruch weht herüber. „Ist hier noch frei?“ „Nein!“ Alles vorbei.