29.04.2017
Die Rheinpfalz

Sie ist wieder da!

Zwischen Kehl und Straßburg rollen ab heute Straßenbahnen – Wie schon im 19. Jahrhundert
Von Bärbel Nückles

Unerschrockenen Tatendrang braucht es schon, um etwas durchzuziehen, von dem gewiss ist: Die nächste Generation wird die wahre Größe der Errungenschaft nicht mehr ermessen können. So geschehen mit dem Projekt Europa, das mit der Sache, die hier gefeiert werden soll, sehr viel zu tun hat. Um was es geht? Um nicht mehr und nicht weniger als ein Verkehrsmittel. Eine Straßenbahn überquert auf einer nagelneuen Brücke ab heute den Rhein zwischen Kehl und Straßburg.Der Verkehr auf der Straßenbrücke nebenan schlängelt sich an bewaffneten Polizisten vorbei. Frankreich lebt seit zwei Jahren im Ausnahmezustand. Dabei erschien Europas Zusammenhalt nach dem Zweiten Weltkrieg so unerschütterlich. Es ist jetzt also der richtige Zeitpunkt, um Brücken zu bauen. Die neue Brücke für die Tram ist die vierte an diesem Ort zwischen Frankreich und Deutschland. Im Norden rollen TGV und ICE über eine Eisenbahnbrücke. Im Süden bewegt sich der Straßenverkehr über die 1960 eingeweihte Europabrücke. Zwischen den beiden Ufern weiter im Süden entwarf der französische Architekt Marc Mimram die filigrane „Passerelle“ für Fußgänger, eingeweiht zur grenzüberschreitenden Landesgartenschau 2004.

Bis vor wenigen Jahren durchfuhren Besucher, sobald sie in Frankreich angekommen waren, eine Art Niemandsland, jedenfalls keinen Ort zum Verweilen auf dem Weg zu den touristischen Schönheiten der Elsass-Metropole. Die Stadtentwicklung hat hier nun Erstaunliches geleistet. Die seit 2008 regierenden Sozialisten haben die Straßenbahn als Leitachse ihrer städtebaulichen Entwicklung vorangetrieben und den Rhein als Lebensraum nach und nach erschlossen. „Straßburg am Rhein“, ein Begriff den Oberbürgermeister Roland Ries geprägt hat, beschreibt ein Novum, weil sich die Stadt über Jahrhunderte vom Rhein eigentlich abgewandt hatte.

Als um die Jahrtausendwende in den Rathäusern von Kehl und Straßburg die baden-württembergische Landesgartenschau 2004 vorbereitet wurde, bekannten sich die Beteiligten zu einem Masterplan, der damals schon Raum ließ für ein Zukunftsprojekt: Irgendwann sollte die Straßburger Tram bis Kehl fahren. Doch mit der Wahlniederlage der Straßburger Sozialisten 2001 lagen die ehrgeizigen Pläne auf Eis. Bei seiner Rückkehr ins Rathaus knüpfte Roland Ries wieder an die Idee an, mit einem Plan, der so neu gar nicht ist.

Seit 1871 gehörte Elsass-Lothringen zum deutschen Kaiserreich. Straßburg wurde damals mit Prachtbauten herausgeputzt. Recht früh, 1877, brachte ein Berliner Ingenieur die Idee einer Verlängerung der neuen Straßenbahn nach Kehl ins Spiel. Das hat die Historikerin und Leiterin des Stadtarchivs Kehl, Ute Scherb, recherchiert.

Es gibt da ein starkes Bild aus einer anderen Zeit: Unter dem gusseisernen Dach einer Brücke prescht ein Reiter auf seinem Schimmel hervor, eine Gruppe von Kindern im Schlepptau. Männer und Frauen flanieren im Hintergrund. Zu sehen ist der Kehler Bürger Josef Stenftenagel, im November 1897 auf der neuen Brücke zwischen Kehl und Straßburg. Stenftenagel hatte gewettet, er werde der letzte sein, der die alte und der erste, der die neue Brücke überqueren werde. Deren offizielle Einweihung hat allerdings nie stattgefunden: Die Schmuckelemente für die Portale waren zu spät fertig geworden. Also verzichtete die Obrigkeit auf eine pompöse Feier. Stenftenagels Ritt über den Rhein galt somit als inoffizielle Vereinnahmung durch die Bevölkerung.

Noch 1884 hatte der Großherzog von Baden den Bau einer neuen Brücke abgelehnt. Die Bevölkerung musste bis 1898 Geduld haben, bis die Bahn dann endlich über den Rhein fuhr. Das überzeugende Argument gegenüber der großherzoglichen Verwaltung in Karlsruhe lieferten badische Arbeiter und Handwerker. Sie wirkten in großer Zahl am Aufbau der Straßburger Neustadt mit. Eine Straßenbahnverbindung über den Rhein, hieß es, ermögliche es badischen Arbeitern, abends wieder zu ihren Familien zurückzukehren. In Straßburg, so das Argument, seien sie dem Werben der SPD um Anhänger ausgesetzt. Die alte, 1816 eingerichtete Schiffbrücke erwies sich zudem für die Überfahrt mit einer Straßenbahn als untauglich. Über lange, schmale Kähne, dicht aneinandergereiht, hatte man die Holzbohlen für die Brücke montiert. Bei schlechter Witterung mussten Transporte schon mal ausgesetzt werden.

1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, werden die Verkehrsverbindungen mit dem nahen Straßburg im Adressbuch der Gemeinde Kehl als „vorzüglich“ bezeichnet. Mit Trambahnen im Zehn-Minuten-Takt ab 6 Uhr bis Mitternacht lassen sie sich mit heutigen Verhältnissen messen.

Welchen Stellenwert im Alltag die elektrifizierte Straßenbahn bald einnahm, belegen die Ausführungen der Klageschrift im Namen des Kehler Hutfabrikanten Carl Rehfus: „Züge mit acht bis neun Wagen, die – besonders an Sonntagen – dicht mit Menschen besetzt sind“, seien keine Seltenheit. Rehfus’ Anwesen ist ein Eckgrundstück, die Bahn umfährt es von beiden Seiten, weshalb der Eigentümer Risse in den Wänden und eine heruntergebrochene Stuckdecke einklagt.

Den Ersten Weltkrieg übersteht die Straßenbahn über den Rhein für nur kurze Zeit. Die Historikerin Ute Scherb hat jedoch Zweifel an der Forschungsposition, die Verbindung sei mit dem Kriegsende und dem Sieg Frankreichs sofort gekappt worden. Zum einen fänden sich in Straßburger und Karlsruher Archiven wenig aussagekräftige Quellen, sagt Scherb. Zum anderen wurde das Motiv der Brücke auch nach 1919 noch gerne auf Postkarten verschickt, auf denen die Bahn zu sehen ist. Hinzu kommt: Auf badischer Seite schmückte ein gallischer Hahn die Brücke, womit Frankreich zu erkennen gab, dass es Kehl ab 1919 mitsamt der Brücke besetzt hatte. Für kurze Zeit, zwischen 1919 und 1922, sei der Straßenbahnbetrieb deshalb fortgesetzt worden. Zu dieser Zeit ist auch der US-amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway als Reporter in der Grenzregion unterwegs. Im „Toronto Daily Star“ erwähnt Hemingway Kehl zweimal und berichtet – was in diesem Kontext für den Betrieb der Straßenbahn aufschlussreich ist –, wie er den Rhein überquert. Hemingway fuhr von Straßburg kommend wie in früheren Zeiten bis ans Ende der Brücke. Weiter ging es zu Fuß.

Ab 1930 dann endet die Kehler Linie, die Linie 1 ab dem Straßburger Hauptbahnhof, wieder in der Mitte der Rheinbrücke, die doch eigens dafür gebaut worden war, dass die Menschen in der Trambahn vom linken Ufer des Rheins an das rechte gelangen konnten. Ein Jahrzehnt später sprengen französische Truppen einen Pfeiler. Vorübergehend wird sie instandgesetzt, bevor die Deutschen sie 1944 endgültig im Rhein versenken. An das Ende des historischen Vorbilds werden die ersten Bürger, die heute die Tram nutzen können, aber wohl nicht denken. Die symbolische Bedeutung der grenzüberschreitenden Straßenbahnverbindung in einem Europa, das von Spaltung bedroht ist, dürfte jedoch allen klar sein.

Die Tram: Daten und Fakten

Etwa 40 000 Fahrzeuge überqueren täglich die Europabrücke zwischen Straßburg und Kehl; die Tram soll diese Zahl reduzieren, mit 6000 Passagieren täglich wird gerechnet.Heute und morgen ist die Fahrt auf der Linie D kostenlos. Ab 1. Mai richten sich die Preise nach den Tarifen der Straßburger Verkehrsbetriebe. 1,70 Euro kostet ein Einzelfahrschein. Wer ein Europass-Ticket für die Zugverbindung Offenburg-Kehl-Straßburg gekauft hat, kann die Tramlinie D mitbenutzen.Das Gesamtprojekt Verlängerung der Tram von Straßburg bis Kehl Rathaus (geplant bis Ende 2018) kostet samt Brücke (24,3 Millionen Euro) und neuer Gleisstrecke 107 Millionen Euro. Heute und morgen steigt zwischen den neuen Haltestellen in Straßburg und dem Kehler Bahnhof jeweils von 10 bis 20 Uhr ein großes Tramfest, unter anderem mit der historischen Lok von 1898. Vollständiges Programm auf www.kehl.de nük