31.07.2012      
Die Rheinpfalz

Raus aus der Enge

Artikel.

Vor 130 Jahren wurde er in Betrieb genommen, bis 1985 war er der längste Eisenbahn-Tunnel Deutschlands: der Kaiser-Wilhelm-Tunnel bei Cochem an der Mosel. Jetzt nagt der Zahn der Zeit an ihm, außerdem gibt es Sicherheitsmängel. Deshalb wird eine neue Röhre gebaut. Die Bahn spricht von einem „Jahrhundertprojekt”.
Von Rolf Schlicher

Cochem. 4205 Meter lang ist der Kaiser-Wilhelm-Tunnel zwischen Cochem und Ediger-Eller, durch den 1879 der erste reguläre Zug gerollt war. Eine Abkürzung im engen Moseltal: Direkt am Fluss entlang wäre die Strecke rund 20 Kilometer weiter. Einheimische erzählen, dass man früher schon einmal nach einem Weinfestbesuch im Nachbarort heimlich durch den Tunnel nach Hause gelaufen ist. An der neuen Röhre, die parallel zur alten Trasse durch den Berg gebohrt wurde, wird seit 2010 gearbeitet. Als die Bahn vergangenen Monat die Fertigstellung des Rohbaus mit einem Tag der offenen Tür feierte, scherzte Cochems Bürgermeister Wolfgang Lambertz: „Heute haben wir die einmalige Gelegenheit, ganz legal durch den Tunnel zu gehen.”

Die Cochemer tun dies mit Stil und Schmackes. Dass die Weinprinzessinnen mitspazieren, ist wenig überraschend. Schließlich soll in der Tunnelmitte ein Schlückchen Moselwein ausgeschenkt werden. Dass aber vier Trommler des Spielmannzugs an der Spitze des ersten Besucherstroms marschieren, verschlägt einem schlichtweg die Sprache. Vielleicht ist der ohrenbetäubende Lärm ein erster Stresstest für den neuen Tunnel.

Insgesamt investiert die Bahn rund 200 Millionen Euro in das Projekt. Im Juni 2013 soll die neue, eingleisige Röhre in Betrieb genommen werden. Danach wird der alte, bisher zweigleisige Kaiser-Wilhelm-Tunnel erneuert und auf eingleisigen Betrieb umgebaut. Ab 2015 kann der Zugverkehr an der Mosel wieder zweigleisig, dann aber in zwei getrennten Tunnelröhren laufen. „Ein Tunnel ist kein Loch in der Erde, das ist ein Bauwerk”, sagt Bahnsprecher Torsten Sälinger. Umwelteinflüsse, Wasser, die Erschütterungen durch den Zugverkehr haben an der alten Verbindung ihre Spuren hinterlassen. Die Röhre war sanierungsreif. Zudem genügte sie den gestiegenen Sicherheitsanforderungen nicht mehr.

Der alte Tunnel ist ein Stück Industriegeschichte. Es hatte seinerzeit drei Jahre gedauert, bis sich die Arbeiter mit Spitzhacken, Schaufeln und Dynamit durch den Berg gekämpft hatten. Wie kein anderer deutscher Eisenbahntunnel stellte die Röhre bei Cochem die Ingenieure vor große lüftungstechnische Probleme. Ventilatoren von 3,5 Meter Durchmesser, später ein 230 Meter hoher Entlüftungsschacht waren notwendig, um die Rauchgase der Dampflokomotiven zumindest einigermaßen in den Griff zu bekommen. Das Maschinenhaus am Nordportal steht heute noch; der Eingangsbereich des Tunnels ist auf Cochemer Seite als Denkmalzone ausgewiesen.

Der Tunnel beginnt mitten im Ort. Vorne an der Cochemer Uferpromenade blickt man auf die schwindelerregenden Steillagen der Moselwinzer, die imposante Reichsburg und die herausgeputzten Fachwerkhäuser. Das wirkt wie ein Bühnenbild. Denn schon eine Straße und ein paar Dächer weiter dominiert der Tunnel das Stadtbild. Jetzt tun sich dort zwei Öffnungen auf. Am 7. November 2011 kam es zum Durchschlag für die neue Röhre. Die gigantische Tunnelbohrmaschine hatte auf der anderen Seite bei Ediger-Eller mit ihrer Arbeit begonnen. 900.000 Tonnen Gestein wurden ausgebrochen, auf der Schiene abtransportiert und im Westerwald zur Renaturierung einer Tongrube eingesetzt. 77.000 Tonnen Beton benötigte man für die Tunnelschale.

Alle zwei Meter stoppte das Schneidrad mit seinen 50 Rollmeißeln: Dann wurde das nächste Stahlbeton-Fertigteil in das Gewölbe geschraubt, der Hohlraum dahinter mit Beton verpresst. Nach 547 Tagen und 4242 Metern erreichte der Bohrzug schließlich Cochem. Das DB-Info-Center nebenan liefert viele Bilder und noch viel mehr Zahlen, Daten und Fakten zum alten und neuen Kaiser-Wilhelm-Tunnel. Es ist eine liebevoll gestaltete Reise in Vergangenheit und Zukunft auf engstem Raum. Typisch Cochem eben, denn zwischen Fluss und Berg geht es auch sonst eng zu. 1,5 Millionen Gäste drängen sich schließlich pro Jahr durch Cochems Gassen.

Kaum eine Chronik oder ein Moselreiseführer versäumt den Hinweis, dass die Kaiser-Wilhelm-Röhre einmal der längste Eisenbahntunnel Deutschlands war. Sie gilt bis heute als „Renommierbauwerk”. Doch die Rekordtage sind seit 1985 gezählt. Die ICE-Neubaustrecken setzen auch in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Deutschlands Supertunnel sind jetzt mehr als doppelt so lang: Der 1991 in Betrieb genommene Mündener Tunnel zwischen Göttingen und Kassel Wilhelmshöhe misst 10.525 Meter, der 1988 freigegebene Landrückentunnel (Hannover-Würzburg) sogar 10.779 Meter. Da sind die 37 Meter, die der neue Kaiser-Wilhelm-Tunnel länger ist als der alte, nur eine Lapalie.

Doch auch ohne Rekordmarke hat man an der Mosel den Tunnel offenbar ins Herz geschlossen. „Von Beginn an war dieses Jahrhundertprojekt an der Mosel auch das Projekt der Bürger in Cochem und in Ediger-Eller”, sagt DB-Netz-Vorstand Jörg Sandvoß. Dazu gehören beim Tag der offenen Tür offensichtlich auch ein Weinausschank in der Tunnelmitte und das Trommelfeuer des Spielmannzugs. Deshalb versteht man auch kaum das „sehr gefährlich”, mit dem Bahnsprecher Sälinger die Episode von den nächtens durch den Tunnel laufenden Einheimischen kommentiert. Im Regelfall, so sagt er, passierten immerhin rund 170 Züge täglich diesen Abschnitt.

Der Bau der zweiten Röhre wird der Deutschen Bahn zwar kein Kapazitätsplus auf der Moselstrecke bescheren, doch das 200-Millionen-Projekt bringt den Tunnel auf den sicherheitstechnisch neusten Stand. Bei dem Innenausbau, der diesen Monat begonnen hat, entsteht in der neuen Röhre beispielsweise eine „feste Fahrbahn”: Die Schienen liegen versenkt im Beton, Rettungsfahrzeuge können wie auf einer Straße in den Tunnel gelangen. Und auf der Cochemer Seite wird ein Masse-Feder-System eingebaut. Diese elastische Schicht zwischen Schienen und Tunnelsohle soll die Übertragung von Erschütterungen und Geräuschen in die über dem Tunnel liegenden Häuser verhindern. Es geht um Vibrationen, die der Zugverkehr auslöst. Manchmal aber auch ein Spielmannszug ...

Info
Internet: www.nkwt.de
Das Info-Center in Cochem (Endertstraße 8) informiert auf 225 Quadratmetern Ausstellungsfläche von Dienstag bis Samstag (13 bis 19 Uhr) über die Tunnelgeschichte und das Bauprojekt.